Kategorie Frauen & Pflege Pflege zu Hause

Landeskonferenz für Menschen mit Behinderungen 2024

Im Mittelpunkt der diesjährigen Veranstaltung stand ein ungewöhnliches Thema: die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Allein der demografische Wandel macht es erforderlich, sich damit auseinanderzusetzen. Denn 2035 wird es in Deutschland mehr Pflegebedürftige als Vorschulkinder geben. Diese Entwicklung hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Arbeitswelt.    

© IMAGO / Westend61

Traditionell richtet sich die Landeskonferenz in erster Linie an die Schwerbehindertenvertretungen und -vertrauensleute (SbVkurz fürSchwerbehindertenvertretung) in den Betrieben. Deshalb kam auch bereits zu Beginn der Diskussion die Frage auf, ob es auch in deren Zuständigkeit fallen sollte, die Interessen von Beschäftigten, die einen Angehörigen pflegen, zu vertreten. Eine Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gab. Denn wie der Impulsvortrag von Katharina Söhne, juristische Refererentin im VdK mit Schwerpunkt auf Inklusion in der Arbeitswelt, deutlich machte, sind auch bei diesem Thema die rechtlichen Bestimmungen sehr komplex und in einem anderen Sozialgesetzbuch (SGBkurz fürSozialgesetzbuch XI) angesidelt als die gesetzlichen Richtinien zur Teilhabe am Arbeitsleben (SGBkurz fürSozialgesetzbuch IX), mit denen SbVkurz fürSchwerbehindertenvertretung üblicherweise zu tun haben. Und die meisten von ihnen fühlen sich mit ihrem bisherigen Aufgabenfeld schon mehr als ausgelastet.     

Auch im Chat zur Online-Konferenz wurde dieses Thema unter den knapp 200 Teilnehmenden lebhabt diskutiert. Der Vorschlag, dass die SbVkurz fürSchwerbehindertenvertretung hier eine Lotsenfunktion ausüben und Betroffenen Wege aufzeigen könnten, wo sie kompetenten Rat und Hilfe erhalten, fand die größte Zustimmung. Einig war man sich auch darin, dass es eine Unternehmenskultur geben muss, in der das Thema Pflege seinen festen Platz hat.

Betriebsvereinbarung zur Pflege

Dass das in einigen Betrieben bereits Wirklichkeit ist, konnte Walter Kuhnert, Schwerbehindertenvertrauensperson bei der DB InfraGO, schildern. So hat die Deutsche Bahn eine Betriebsvereinbarung für Pflege abgeschlossen und verfügt unter anderem auch über einen hausinternen Sozialdienst, an den sich Beschäftigte vertrauensvoll wenden können. In Hessen gibt es zudem seit 2021 die Charta zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, der neben rund 330 anderen Unternehmen und Organisationen auch der VdK beigetreten ist. Mit der Unterzeichnung der Charta bekennen sich die Unterzeichnenden: 

• zur Enttabuisierung und Würdigung der Übernahme von Pflegeaufgaben,
• zur Förderung einer entsprechenden Organisationskultur,
• zum lösungsorientierten Umgang mit den Situationen der pflegenden Beschäftigten,
• zur Förderung des internen und externen Dialogs.   

Dass Arbeitgeber ihren Beschäftigten in dieser Situation zur Seite stehen, ist dringend erforderlich, denn, wie es Anna-Maria Boulnois, Abteilungsleitung Frauen- und Gleichbestellungspolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund Hessen-Thüringen, ungeschönt ausdrückte: “Wer Jahre lang gleichzeitig arbeiten geht und pflegt, wird am Ende selbst zum Pflegefall.” Allerdings reichen Beratung und Information am Arbeitsplatz - so sehr sie in vielen Fällen dringend gebraucht werden - nicht aus, wie Dorothee Czennia, Referentin für Sozialpolitik im VdK Deutschland, klarstellte: “Was nützt die Info, wenn am Wohnort die ambulanten Pflegedienste keine neuen Patienten aufnehmen und es keine freien Plätze in der Tagespflege gibt?". Auch eine Verringerung der Arbeitszeit, wie sie viele Erwerbstätige anstreben, um zu Hause pflegen zu können, müsse man sich finanziell leisten können, meinte Czennia. Gerade in Anbetracht steigender Lebenshaltungskosten wäre das vielen aber nicht möglich.   

Frauen pflegen häufiger als Männer 

Pflege ist also ein gesamtgesellschaftliches Thema, und es ist, worauf Czennia wie Boulnois hinwiesen, vor allem auch ein Frauenthema. Sie machen mit rund 70 Prozent die Mehrheit unter den pflegenden Angehörigen aus. Das hat Folgen für Einkommen und Rente und führt nicht selten in die Altersarmut. Eine gerechtere Aufteilung der sogenannten Sorgearbeit - Kinderbetreuung, Haushalt und Pflege - in den Partnerschaften sei daher dringend erforderlich, so Boulnois, was ihr den Einwand von Marius Naser von der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände einbrachte, dass dies die Paare vor allem privat klären müssten und nicht die Arbeitgeber. Naser machte außerdem deutlich, dass es insbesondere für kleinere Betriebe schwierig sei, Mitarbeitenden flexible Arbeitszeiten oder vorübergehende Freistellungen zu ermöglichen, weil in ihren nur wenige Köpfe zählenden Belegschaften nur schwer auf Einzelne verzichtet werden könne.

Gleichwohl räumte auch Naser ein, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Unternehmen eine immer größere Rolle spiele. Allerdings würden zwei Drittel der berufstätigen und pflegenden Angehörigen nicht als offizielle Pflegeperson in Erscheinung treten. Als solche gilt, wer mindestens zehn Stunden pro Woche pflegt. Hinzu komme, dass Pflege weiterhin ein Tabuthema sei, über das man mittags in der Kantine mit den Kolleginnen und Kollegen eher nicht plaudere. Viele Vorgesetzte wissen daher wohl gar nicht, welcher Doppelbelastung manche ihrer Mitarbeitenden ausgesetzt sind.

Einhellig wurde daher von allen Konferenzteilnehmenden der Vorschlag einer Betriebsvereinbarung zum Thema Pflege begrüßt. Hier könnte man möglicherweise auch Unterstützungsleistungen für die Betroffenen festschreiben, die über den aktuellen rechtlichen Rahmen hinausgingen. Denn dieser setze lediglich “Mindeststandards”, wie Dorothee Czennia betonte. So fordert der VdK beispielweise eine Lohnersatzleistung während der Pflegezeit, damit pflegende Angehörige nicht von Armut bedroht sind. Wichtig sei auch, so Marius Naser, dass die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige nicht länger von der Pflegeversicherung, sondern aus Steuermitteln finanziert würden, wofür sich der VdK ebenfalls ausspricht. 

Es muss also immer noch viel getan werden, damit sich Erwerbstätige, die zusätzlich zu ihrem Job ein Familienmitglied betreuen, nicht länger alleingelassen fühlen, wie es leider heute noch - laut mehrerer VdK-Umfragen - viel zu viele von ihnen tun.